Eine Lektion im kleinen Turm

Das ist ein Gastbeitrag für den Adventskalender auf polyneux.de. Ich bin hinter Türchen 14.

Apple hat Tiny Tower zum Spiel des Jahres gekürt (jedenfalls im amerikanischen iTunes-Store, in Europa rutschte Tiny Wings noch vorne rein). Aber Tiny Tower ist kein Spiel, es ist Arbeit. Es ist fast vollständig denkfreies, mechanisches Klicken. Es ist das, was man tut, wenn man nichts mehr anderes tun mag, oder wenn man etwas mühsames vor sich herschiebt.

Vordergründig tut Tiny Tower so, als sei es eine Wirtschaftssimulation. Schliesslich bauen wir einen Wolkenkratzer, vermieten Wohnungen und Läden und teilen die Bewohner möglichst ideal zum Arbeitsdienst ein. Doch bald schleift sich Routine ein, und wir merken, dass sich die «Strategie» in zwei, drei Merksätzen erschöpft, und dass es vor allem um eines geht: Zeit. Je mehr Zeit wir mit dem Spiel verbringen, desto höher wird der Turm.

Tiny Tower ist «free to play», kostet also zunächst nichts. Doch davon kann niemand leben bzw. Spiele designen, und deshalb hält uns Tiny Tower eine verführerische Karotte vor die Nase: Willst du wirklich warten? Oder vielleicht die Warteschlaufe überspringen und dafür ein bisschen Geld ausgeben? Na, na? Willst du? Es ist auch ganz wenig Geld!

Tiny Tower erteilt uns so eine wichtige Lektion: Zeit ist Geld. Geld ist Zeit. Zwei Währungen, austauschbar. Wer mehr von der einen hat, möchte sie vielleicht in die andere umtauschen. Doch den Preis, den wir für diese Lektion bezahlen müssen, ist der: Das Spiel macht keinerlei Spass.

Deshalb ist Tiny Tower ein Symbol für eine neue Game-Industrie, die rasant wächst. Das Modell: Gratis spielen, später vielleicht etwas Geld ausgeben. Für etwas, das wir wirklich wollen: Zeit oder Status.


Dieses Industrie-Segment ist eigentlich nicht mehr Teil der Unterhaltungsindustrie. Ziel ist nicht mehr Unterhaltung. Sondern unsere Ängste, Bedürfnisse und Schwächen auszunutzen und in Geld zu verwandeln. So wie die hohe Literatur von Self-Help-, Business- und Diät-Büchern verdrängt wurde, wird dieses Segment das Grösste der Industrie werden, denn es gibt keine stärkeren Treiber.

Doch das liegt nicht am Modell «Free to play» an sich. Verantwortlich ist nicht das Modell, sondern die Ideale und Ziele der Macher hinter dem Spiel. «Free to play» und Spass schliessen sich nicht aus. Auch eine grundsätzliche moralische Verwerflichkeit des Modells sehe ich im Gegensatz zu vielen Hardcore-Gamern nicht. Denn traditionell zahlen wir den vollen Preis für etwas, von dem wir nicht wirklich wissen, ob es uns gefällt. Unterhaltung ist immer so subjektiv, dass es auch bei von den Kritikern hochgejubelten Spielen möglich ist, dass sie den eigenen Geschmack nicht treffen. Es ist also durchaus eine gute Idee, Spiele zunächst zu testen und erst später Geld auszugeben. Und weil die Designer so nur verdienen, wenn sie das Spass-Versprechen auch tatsächlich einlösen, und die Konkurrenz hart ist, müsste das zu tollen Spielen führen.

Oder eben nicht, wenn sie auf die dunkle Seite kippen und nach erprobten Mustern unsere niederen Instinkte und Schwächen ausnutzen. Dieser Industriezweig ist wohl mit Casinos und Bordellen auf eine Stufe zu stellen. Und wie diese wird er nie mehr verschwinden.

Unsere Aufgabe als Kritiker und erfahrene Spieler ist es deshalb, weniger alphabetisierte Spielerinnen und Spieler darauf hinzuweisen, ob ein Spiel der hellen oder der dunklen Seite der «Free to play»-Macht huldigt.

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