Dwarf Fortress: Das komplizierteste Tamagotchi der Welt

Wenn in Gamer-Kreisen jemand «Dwarf Fortress» erwähnt, geht immer ein Raunen durch die Runde. Es ist das Buch auf dem Nachttisch, das man schon lange lesen will – aber immer wieder weglegt, schwere Kost. «Dwarf Fortress» ist eine hochkomplexe Simulation, mit überwältigend komplizierter Bedienung, abstrakt, fast ohne Grafik. Doch wer sich durchbeisst, wird reicht belohnt.

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«Dwarf Fortress» ist ein Aufbau- und Pflegespiel. Eine Gruppe Zwerge macht sich auf in die Wildnis und gründet eine Kolonie. Wir steuern die Zwerge nicht direkt, sondern geben ihnen Anweisungen: Was sie wo bauen oder lagern sollen. Ziel ist, ihre Festung zum Blühen zu bringen, die Zwerge am Leben und zufrieden zu halten.

Das Spiel verzichtet auf neumodischen Kram wie Grafik oder Maus und setzt stattdessen auf eine Darstellung mit Buchstaben und Symbolen und ein Menu-System wie in alten DOS-Programmen. Das macht den Einstieg nicht gerade leicht. Vielleicht kann ich helfen, mit dieser Erklärung der ersten Schritte in «Dwarf Fortress»:

Meine Gruppe Zwerge lässt sich in «Tongsboot» nieder, zwergisch «Olincog». Die Führung der Expedition übernimmt Iden Uzoltosid, eine ältere Dame mit einer Vorliebe für Pferdeleder, die Farbe Orange und Kriegshämmer. Ihr Kopf ist kahl rasiert und sie sei «fett» und stämmig, informiert mich das Spiel. Diskussionen mag sie nicht, aber Stress hält sie gut aus. Nicht allzu kreativ, dafür ein gutes Gespür für das Zwischenmenschliche. Und sie mag Bier.

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Nichts davon sehen wir, wir lesen es nur in einer Beschreibung und stellen es uns vor. Und hinter jedem Wort stehen Algorithmen, die alles erdenkliche modellieren und simulieren. Die Beziehungen der Zwerge, ihre Zufriedenheit und Vorlieben, ihre Arbeit, ihre Fähigkeiten – alles beeinflusst sich gegenseitig. Ein Zwerg, der zu wenig zu trinken hat, wird unzufrieden. Oder kriegt den Höhlenkoller, weil er keinen eigenen Raum hat. Oder kann die ewig gleichen rohen Pilze nicht mehr sehen. Oder kann zwar mittlerweile gut Holz schlagen, weil er das die ganze Zeit macht – wird dabei aber traurig, weil er lieber Wolle spinnen würde.

Doch zu Beginn können wir auf die Vorlieben unserer Zwerge noch keine Rücksicht nehmen. Wir sind nur schon froh, wenn sie das tun, was wir möchten. Warum sitzen die alle nur rum, obwohl ich doch einen neuen Tunnel in Auftrag gegeben habe? Ah, die Treppe ist nur zur Hälfte gebaut. Warum braut niemand Bier, obwohl ich Zutaten angebaut, eine Brauerei eingerichtet und Braumeister eingeteilt habe? Ach so, Behälter fehlen. Nun gut, Urist Cattenber wird zum Töpfern abkommandiert. Aber die legt sich erschöpft auf einen Felshaufen und schläft. Neue Immigranten sind angekommen! Die wollen versorgt sein und brauchen Jobs. Was fürs Militär? Und der Fischerzwerg Sigon Othôsäs kämpft im Wald mit einer Wildsau. Vielleicht wäre es besser, alle in den sicheren Untergrund zu holen und die Zugbrücke hochzuziehen. Ach, nein, der Hebel dafür ist noch nicht produziert, weil der Manager noch keine Zeit gefunden hat, ins Büro zu gehen und dort den Auftrag zu bestätigen.

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«Dwarf Fortress» zu starten ist wie das Öffnen eines Zauberbuches. Arkane, unverständliche Symbole springen uns in die Augen, nichts verstehen wir. Doch es entwickelt einen Sog. Wir spüren die Macht, die hinter den undurchdringlichen Zeichen verborgen lauert, und wir wollen sie beherrschen lernen.

Der völlige Verzicht auf moderne Grafik (stattdessen «Extended ASCII», Code page 437 von IBM) ist die eine Hälfte der Faszination. Denn wie beim Lesen eines guten Buches stellen wir uns die Welt vor statt sie zu konsumieren. Dadurch versinken wir tiefer im Spiel, als man für möglich halten würde. Und es ist unsere eigene Welt in unserer eigenen Vorstellung. Das macht das Spiel zu einem sehr persönlichen Erlebnis.

Die andere Hälfte ist die Detailtiefe der Simulation. Wie unsere Zwerge immer tiefer graben und neue Erzadern entdecken, so schälen wir immer wieder neue Möglichkeiten, neue Spielweisen, neue Modelle heraus. Nur schon die Liste der Erze im Spiel ist ellenlang, und als erstmals Abgesandte einer anderen Siedlung (es gibt andere Siedlungen!?) nach Olincog kommen, beginnt ein komplexes Hin und Her um unsere Handelsbeziehungen. Die Prozentzahlen und Güterlisten verschwimmen vor meinen Augen – ich muss wohl davon ausgehen, dass die Händler meine Zwerge übers Ohr hauen. 

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«Dwarf Fortress» ist das Werk eines Besessenen. Tarn Adams programmiert das Spiel, sein älterer Bruder Zach liefert Ideen und Beratung. Tarn, der sich «The Toady One» nennt, hätte eigentlich eine aussichtsreiche Karriere als Mathematiker vor sich gehabt. Ausgebildet an der Elite-Universität in Standford entschied er sich jedoch, stattdessen als «Bay 12 Games» Spiele zu programmieren. Bei «Dwarf Fortress» (der volle Titel wäre korrekt «Slaves to Armok: God of Blood, Chapter II: Dwarf Fortress»!) blieb er dann aber hängen, das Spiel scheint zum Lebensinhalt geworden sein.

«Dwarf Fortress» kann man gratis herunterladen und spielen – wer mag, kann etwas spenden. Von diesen Spenden lebt Tarn Adams, nahe am Existenzminimum in einer winzigen 2-Zimmer-Wohnung in der Nähe von Seattle. Sie soll fast leer sein, ein paar Kisten, ein Bett, ein Bürotisch mit Computer. Die Fenster seien mit Brettern verrammelt, denn Tarn schläft tagsüber und programmiert in der Nacht.

Und zwar schon seit bald einem Jahrzehnt. Die erste öffentliche Version von «Dwarf Fortress» erschien im August 2006. Seither bauen die Adams-Brüder kontinuierlich weitere Details und Modellierungen ein. Und auch wenn es seit dem letzten grösseren Release (März 2011) auch schon wieder eine Weile her ist, haben sie noch lange nicht genug. Der zukünftige Ausbau wird mit der Community diskutier
t, aktuell z.B. gerade hier. Rund eine Million mal wurde «Dwarf Fortress» heruntergeladen, regelmässig spielen es wohl einige Tausend.

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Den mathematischen Hintergrund merkt man dem Spiel zwar nicht an, denn die Fantasie der detailliert ausgestalteten Zwergenwelt ist glaubwürdig. Doch hinter jeder Geschichte und jedem Erlebnis im Spiel stehen Algorithmen. Nicht nur die Geografie der Welt wird zu Beginn des Spiels prozedural erstellt. Auch die Fähigkeiten und Charaktereigenschaften der Zwerge entstehen zufällig innerhalb detaillierter Regeln. Sogar eine Historie erhält die Welt. Nichts davon stammt aus der Feder eines Autors, sondern ist das Resultat fein aufeinander abgestimmter Algorithmen.

«Dwarf Fortress» ist deshalb ein hervorragendes Beispiel dafür, dass «Handlung» in Spielen im Gegensatz zu anderen Medien nicht zwangsläufig der Vorstellung eines Erzählers entspringen muss. Stattdessen modelliert der Autor eine Welt, definiert Regeln, gibt uns Werkzeuge in die Hand. Was wir dann erleben, kann er nicht voraussehen – es ist unsere Geschichte auf seiner Bühne.

«Dwarf Fortress» setzt dieses Prinzip so radikal um wie kein anderes Spiel. Und belohnt uns für Geduld und Lernwilligkeit mit einem aussergewöhnlichen Erlebnis.

Dwarf Fortress ist gratis zum Download bei Bay 12 Games. Es läuft auf PC, Mac und Linux. Einen Einstieg versuche ich in diesem Video zu ermöglichen, die ausführliche Anleitung für Anfänger ist im Wiki. Empfehlenswert ist ausserdem die Verwendung von Dwarf Therapist (bei mehr als zehn Zwergen verliert man sonst den Überblick, wer welche Fähigkeiten und Vorlieben hat). Das Haikiew ist hier.

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